Geschlechterrichtwerte in Aktiengesellschaften: Wer erfüllt und wer (noch) nicht
Wie steht es um die im neuen Aktienrecht geforderten Geschlechterrichtwerte? Der Diversity Report Schweiz 2021 hat 231 börsenkotierte Unternehmen sowie 7'656 Schweizer Aktiengesellschaften mit über 50 Mitarbeitenden analysiert.
Das neue Aktienrecht ist seit Anfang 2021 in Kraft. Es verlangt unter anderem, dass in Verwaltungsräten von börsenkotierten Unternehmen beide Geschlechter zu mindestens 30 Prozent vertreten sein, in Geschäftsleitungen zu mindestens 20 Prozent. Betroffen sind in der Schweiz insgesamt etwa 200 Unternehmen. Werden die Geschlechterrichtwerte nicht erreicht, müssen die betroffenen Unternehmen dazu im Vergütungsbericht begründend Stellung nehmen und erläutern, welche Massnahmen sie zur Verbesserung treffen wollen. Sanktionen haben sie – und das wird insbesondere von feministischer Seite bemängelt – aber keine zu befürchten.
Zehn grösste Firmen mit Vorbildfunktion
Doch wie steht es nun tatsächlich um die Geschlechterrichtwerte in börsenkotierten Schweizer Unternehmen? Dies hat der zum zweiten Mal erschienene Diversity Report Schweiz untersucht. Die von GetDiversity GmbH mit Unterstützung von EXPERTsuisse und der Zeitschrift Swiss Ladies Drive herausgegebene Vollerhebung hat die Zusammensetzung von 231 Geschäftsleitungen und 7656 Verwaltungsräten zusammengetragen.
Ein besonderes Augenmerk galt dieses Mal den zehn grössten Firmen der Schweiz, die mit ihren insgesamt über eine Million Beschäftigten auch eine Vorbildfunktion in der Personalpolitik haben. Mit einem Frauenanteil von über 30 % im Verwaltungsrat, über 20 % in der Geschäftsleitung und über 30 % bei den Zeichnungsberechtigten führt die Zurich Insurance Group die Liste der Top Ten an. Weitere Unternehmen auf den vorderen Rängen sind UBS und Nestlé mit ebenfalls 30 % Frauen in den Verwaltungsräten sowie Lafarge Holcim, ABB und Roche mit über 20 % Frauenanteil in den Geschäftsleitungen. Damit sind alle gemeinsam schon jetzt nahe an den gesetzlichen Vorgaben.
Wo die Geschlechterrichtwerte erfüllt werden
Ihnen gegenüber stehen 83 der insgesamt 231 an Schweizer Börsen kotierten Unternehmen (36 %) mit rein männlich besetzten Verwaltungsräten, 134 (58 %) ohne eine einzige Frau in der Geschäftsleitung und 51 (22%), die keinerlei Frauen als Zeichnungsberechtigte haben. Es bleibt also noch einiges zu tun für die 231 börsenkotierten Unternehmen bis zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben. Gleiches gilt für die Gesamtheit der analysierten Firmen. Denn von den insgesamt 7’656 ausgewerteten Aktiengesellschaften haben 4’908 (64 %) keine Frau in ihrem Verwaltungsrat. Positiv hingegen ist, dass immerhin 1’495 (20 %) der Unternehmen bereits jetzt die Geschlechterrichtwerte für Verwaltungsräte von börsenkotierten Firmen einhalten.
Es geht nicht nur um Geschlechterrichtwerte allein
Allerdings: Die Geschlechterrichtwerte beziehen sich nicht nur auf den Frauenanteil in Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten. Sie gelten gleichermassen auch für Männer. Dies stellt etwa Dr. Marius Klauser, Geschäftsführer von EXPERTsuisse in einem Interview klar. Dem Missverständnis, dass es immer nur um Frauenförderung gehe, entgegentreten wollen deshalb die Autorinnen des Diversity Reports Schweiz: Esther-Mirjam de Boer und Carla Kaufmann, Co-CEOs von GetDiversity, haben in diesem Jahr die Diversity!Association gegründet. Dieser Verband engagiert sich als Know-how-Ecosystem für die Chancengerechtigkeit und Gleichberechtigung aller erwerbswilligen Talente in der Arbeitswelt auf Basis ihrer Fähigkeiten – unabhängig vom Geschlecht.
Setzen auf Talente – die Schweizer «Diversity Champions»
Unter den ausgewerteten Aktiengesellschaften gibt es bereits heute 267 «Diversity Champions». Sie scheinen das Prinzip «Talent vor Geschlecht» längst verstanden zu haben. Gemeint sind damit Unternehmen, die eine Geschlechtervertretung von 50 % Frauen und 50 % Männern im Verwaltungsrat und bei den Zeichnungsberechtigten vorweisen, weshalb der Diversity Report Schweiz 2021 sie als «Diversity Champions» auszeichnet. Zu diesen Unternehmen gehören unter anderem
als Firmen mit über 500 Mitarbeitenden:
- Peter Steiner Holding AG, Zürich,
- YX Magnetic SA, Sierre
als älteste Firmen, 1883 im HR eingetragen:
- Hotel Europe Davos AG, Davos,
- Effingermedien AG, Brugg
als Firmen mit jeweils sechs Verwaltungsrätinnen und den grössten VR-Teams:
- Groupe Médical de Versoix SA, Versoix
- Valmont Group Holding SA, Genf
- EF Education First AG, Zürich
- Montanstahl SA, Stabio
- Informaticon AG, Frutigen
- Alters- und Pflegezentrum Au AG, Steinenn
Diversität statt Inzucht
Was ist das Gegenteil von Diversität? oder, anders gefragt: Warum diese «Klimmzüge» für eine gute Durchmischung? Warum macht Vielfalt Unternehmen wettbewerbs- und widerstandsfähiger? «In der Natur fällt die Antwort eindeutig aus. Hier ist fehlende Diversität gleichbedeutend mit Monokultur und Inzucht – und die ist kein nachhaltiger Zustand. Denn dass die Ausgrenzung von fremdem Erbgut mittel- bis langfristig schwach, kurzlebig und schwachsinnig macht, ist bekannt», erläutert Esther-Mirjam de Boer.
Laut einer Harvard-Studie hat sich die noch in den 1960er Jahren prognostizierte Lebensdauer von 60 Jahren eines S&P-500-Unternehmens auf zwischenzeitlich 18 Jahre verkürzt. Ist das die Konsequenz mangelnder Diversität? Dazu de Boer: «In den vergangenen Jahrzehnten sind die Schablonen für vermeintlich gute Mitarbeitende extrem eng geworden, weil man auf Nummer sicher gehen will. Damit fallen viele Talente ausserhalb dieser Standards durchs Raster, was die Diversität reduziert und blinde Flecken fördert.»
Quelle: GetDiversity GmbH